Dienstag, August 03, 2010

78 Kilometer leiden und träumen...

Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich mit dem Auto von Landquart die kurvigen Strassen Richtung Davos fahre. 78 Kilometer, 2'830 Höhenmeter liegen vor mir. Noch nie im Leben bin ich so weit gerannt, der höchste Punkt liegt zudem auf nicht gerade läppischen 2'653 Meter über Meer. In den achtziger Jahre, als der Swiss Alpine Marathon das erste Mal stattfand, wurden die Teilnehmer noch als "Spinner" bezeichnet. Laufboom und veränderte Freizeitgestaltung haben dazu geführt, dass an diesem 31. Juli 2010 bereits 1'232 Männer und 252 Frauen den langen Weg auf sich nehmen. Eine ziemlich grosse Gruppe von Verrückten also.

Jörg Lauffreund aus Dresden, steht auf dem Shirt meines Nebenmanns. Viele deutsche Teilnehmer sind am Start des 25. Alpine Marathon. Ein weiterer Sportler aus Hamburg grüsst per Mikrofon seine Mitläufer. Die Stimmung ist fröhlich und angespannt, die Wetterverhältnisse fantastisch. Das unvermeintliche "Conquest of Paradise" wird wenigen Minuten vor dem Start angespielt, in der Luft kreist ein Helikopter und einzelne Läufer murmeln die letzten Stossgebete vor sich hin. Ich spare mir das für den späteren Verlauf des Rennens auf.
Der Startschuss ertönt, es geht los. Zuerst drehen wir eine vorgezogene "Ehrenrunde" in Davos, bevor wir in die malerische Bündner Landschaft eintauchen. Beim kleinen, wirklich kleinen, Weiler Spina werden wir nach wenigen Kilometern euphorisch begrüsst. Hätte man nicht noch die Strecke Gossau-Zürich inkl. einigen Hügeln vor sich, man würde gleich mitfeiern. Meine Gemütslage ist auf den ersten Kilometer nicht so toll. Der linke Fuss schmerzt ziemlich. Ich kann mir das nicht erklären, normalerweise bin ich Verletzungs und Beschwerdefrei. Die schöne Strecke durch die Zügenschlucht zum Bahnhof Wiesen lässt mich mein Handicap aber Vergessen. Wir überqueren das Wiesener Viadukt und erreichen bald den tiefsten Punkt der Strecke, das Dorf Filisur (1019m). Nun überholen wir die ersten Läufer, die sich bereits um 06.00 auf den Weg machten, 2 Stunden vor meiner Gruppe. Diese vermeintlich langsameren Läufer haben 14 Stunden Zeit ins Ziel zu gelangen, meine Startgruppe 12 Stunden.

Nach Filisur beginnt der erste wirkliche Anstieg, es geht dem Tal der Albula entlang Richtung Bergün (1'365m). Der stetige Anstieg auf einer abgesperrten Strasse, ist der am wenigsten spannende Teil der Strecke. Trotzdem fühle ich mich gut. Mental habe ich mir vorgenommen, immer in kleinen Schritten zu denken. Filisur-Bergün-Keschhütte-Scalettapass-Dürrboden-Davos, diese 5 Etappen hatte ich mir eingeprägt. Die Kilometer Zahlen beachte ich kaum. Ich befürchtete im Vorfeld, dass mich dies bei einer Krise zusätzlich belasten könnte. Zu den bereits erwähnten Teiletappen, warten auch immer wieder kleine Belohnungen auf mich. In Bergün, mittlerweile liegt schon fast eine Marathon Distanz hinter uns, trinke ich als "Belohnung" gierig eine Cola. Diese hatte ich mir zusammen mit meinem Rucksack hierher transportieren lassen. Der Veranstalter denkt wirklich an alles. Ich nütze den kurzen Stopp auch, um meinen Bestand an Energie Gels wieder "nachzufüllen". Ab jetzt geht es endgültig nur noch hoch. In Bergün wäre eigentlich die letzte Möglichkeit, um aufzugeben. Ansonsten müsste man ja erst wieder in die Zivilisation zurückwandern. Gemütlich in den Zug steigen, eine Dose Calanda öffen und friedlich nach Davos tuckern. Solche oder ähnliche Gedanken kommen bei einem Marathon unweigerlich, werden aber in der Regel auch schnell verdrängt.

Ich erlebe ab Kilometer 42 eine Hochphase. Die Absolvierung des Marathons motiviert mich. Die richtige Verpflegung habe ich auch ausgewählt. Die flüssige Aktiv Nahrung macht sich positiv bemerkbar. Ich kann mein Tempo hochhalten, und es bleibt sogar Zeit, einem Gossauer Läufer aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. Nach dem schmucken Weiler Chants geht’s von befestigten Wanderwegen auf Bergpfade über. Nun ist es vorbei mit Rennen. Ich verfalle in den Wanderschritt. Jeder Teilnehmer führt nun seinen eigenen Kampf gegen das steile, holprige Terrain. Ein Läufer lässt mich passieren und fragt, wie ich mich so fühle? Ich antworte: "ja es geht so!". Er meint: "er komme aus der deutschen Hauptstadt und habe ein wenig Mühe mit der Höhenluft". Ich antworte schmunzelnd, dass mich dies bei einem Berliner nicht sonderlich überrasche.

Im Blickfeld erscheint bald die Keschhütte auf 2632 Meter über Meer. Wir sind mittlerweile auf hochalpinem Gelände. Der Weg zieht sich scheinbar endlos bis zu diesem neuralgischen Punkt der Strecke hin. Kurz vor der Keschhütte übermannt mich ein kurzer, aber heftiger Hustenanfall, wahrscheinlich der Höhenluft geschuldet. Oben trinke ich zwei Becher Bouillon, und schon geht’s weiter. "Jetzt gots nur no abe", ruft ein Bündner Läufer mit hörbar erfreuter Stimme. Ich schliesse mich ihm und seinem Kollegen an. Wir machen uns gemeinsam auf den Panoramatrail. 7km auf schmalen Bergpfaden geht’s nun dahin, der wohl gefährlichste Teil der Strecke. Ich laufe am Schluss der Gruppe. Dies hat den Vorteil, dass ich auf die Füsse meiner Vorderleute achten kann. Ein falscher Schritt, und man fällt unter Umständen einige Meter in die Tiefe. Anfänglich überwiegt die Freude, dass es wieder mal geradeaus geht und nicht die Berge hoch. Allerdings ist die vermeintliche Erleichterung ein Trugschluss. Die engen Wege erfordern eine hohe Konzentration, zudem werden die Beine immer schwerer. Kurz vor dem Scalettapass bekunde ich das erste Mal richtig Mühe. Es reicht schon, wenn man die Füsse einen Zentimeter zu wenig hochnimmt, und schon folgt der unweigerliche Sturz. Die erste Bauchlandung stecke ich fluchend, aber unverletzt weg. Aufeinmal fliegt jedoch ein TV Helikopter ziemlich nahe an unsere Gruppe heran. Ein kurzer Blick in Richtung des fliegenden Objekts reicht, und schon liege ich ein zweites Mal danieder. Dieses Mal ging die Sache weniger glimpflich aus. Meine Hand blutet und an einem Knie habe ich eine leichte Schürfung. Mit immer wiederkehrendem Blick auf meine rot gefärbte Handfläche erreiche ich den Scalettapass. Hier werde ich verarztet, auch die "unverletzten" Läufer werden an diesem Punkt vom Rennarzt kurz in Augenschein genommen. Die freundlichen Helfer bemühen sich um mein Wohl. Schnell und professionell bekomme ich ein Pflaster und sogar Getränke werden mir gereicht (Endlich wieder Cola). Mit dem Hinweis, dass die Strecke nun nicht unbedingt einfacher werde, entlassen mich die Sanitäter wieder auf die Laufstrecke. Innerhalb von 4 Kilometer legt die Läuferschar nun 600 Höhenmeter zurück. Die Müdigkeit hat nicht nur mich erfasst. Ich sehe immer wieder strauchelnde Teilnehmer.
Wir erreichen Dürrboden, von nun geht’s 14 Kilometer immer leicht bergab nach Davos. Nun ist klar, ich werden meinen ersten Ultra Marathon sicher zu Ende bringen. Die Verletzungsgefahr ist hier nur noch minim, und selbst ihm langsamen Wanderschritt würde ich das Ziel noch rechtzeitig vor Zielschluss erreichen. Ich geniesse so gut wie möglich das letzte Teilstück, und freue mich auf die Verpflegungsstationen alle 4 Kilometer. Acht Kilometer vor Schluss schaue ich auf meine Uhr, die Sieben Stunden und 10 Minuten Laufzeit anzeigt. Schade, denke ich, wird nichts mit der Endzeit unter 8 Stunden. 8 x 5 Minuten pro KM=50 Minuten? Erst kurz vor Schluss bemerke ich bei einem erneuten Blick auf die Uhr, dass ich da wohl einen Rechungsfehler gemacht habe. An diesem Beispiel sieht man, dass so ein Ultra-Marathon nicht nur enorme physische, sondern auch phsychische Anstrengung erfordert.

Kurz vor dem Ziel war also klar, ich würde auch meine erhoffte Zeit unter 8 Stunden erreichen. Beflügelt überhole ich nun noch einige Läufer, und ich fliege förmlich ins Ziel. Noch ein letzter fieser Anstieg kurz vor Davos und schon hört man den Sprecher am Ziel des Marathons. Strahlend (hier nicht ersichtlich :-))und winkend begrüsse ich die vielen Zuschauer beim Sportzentrum Davos. Während des Laufs stellte ich mir immer wieder vor, wie ich mich im Ziel schön hinlege und einfach nicht mehr Rennen müsste. So ist es dann auch, ich hole mir ein Bier, schliesse die Augen und geniesse einfach für einige Momente meinen persönliche Triumph.


Als ich vor 8 Jahren mit dem Laufsport begann, hätte ich nicht im Entferntesten daran geglaubt irgendwann den grössten Berg Ultra Marathon der Welt zurück legen zu können. Dieser Lauf gehörte zu den faszinierensten Erlebnissen meiner sportlichen Laufbahn. Ein Läuferkollege aus Gossau, der den K-78 schon 8x bestritten hat, meinte nach dem Marathon. Heute war es der schönste Swiss Alpine Marathon aller Zeiten, die Verhältnisse waren perfekt. Diesen Eindruck teilten auch die Veranstalter. Sie sprachen davon, dass der 25. SAM nicht zu toppen wäre.


Eine tiefe, innere Zufriedenheit erfasst mich auf der Heimfahrt von Davos. Mit dem Laufen anzufangen, war eine der besten Entscheidungen in meinen Leben.


PS: ein grosser Dank den Veranstaltern für die perfekte Organisation.

1 Kommentar:

Bock hat gesagt…

nächstes mal bin ich dabei! kannst dann schon mal win paar Weizenbier trinken bis ich im Ziel bin