Dienstag, Februar 16, 2010

Ein Abend in Gold

Einige Tage vor Beginn einer Olympiade denke ich jeweils, diese Spiele interessieren mich in etwa soviel wie ein Abstiegskampf in der kasachischen Volleyball Liga, aber dann….

Es ist kurz vor halb Acht, Montag Abend. Ich sitze ruhig vor dem Fernseher, Olympia Abfahrt! Die wichtigste Sportveranstaltung der Welt, wenn es nach den Wintersportfans aus der Schweiz und Österreich gehen würde. Meine Frau tippt auf Cuche, ich setze als geborener Pessimist auf Michael Walchhofer aus dem" Austria Power Team" (das mittlere Wort könnte man seit einigen Jahren übrigens durchaus weglassen). Ich tippe desweiteren auf eine "Leder Medaille" für Didier Cuche, aber eigentlich lässt mich der ganze Medien-Hype um dieses olympische Rennen sowieso ziemlich kalt.

Der Franzose Poisson fährt herausragend, dieser Meinung sind Hüppi und Russi. Ihres Zeichens Picasso und Rembrandt, der Ski-Kommentatoren Kunst. Welches Schweizer Kind ist nicht mit den Analysen dieser Beiden aufgewachsen? "Sehr güet unterwegs dä Bruno Kernen, ja aber das längt nid ganz, 1,5 Sekunde Rückstand uf dä Führendi". Oft lagen sie richtig, manchmal auch falsch mit ihren Analysen

Die Nummer 2 oder doch die Nummer 3 wäre heute am Besten gewesen, meinen die Experten vom Schweizer Fernsehen. Keine guten Voraussetzungen für Topfavorit Cuche mit der 22. Bei mir wechseln sich die persönlichen Goldfavoriten schneller ab, als die talentlosen Kandidaten bei "Deutschland sucht den Superstar". Ich werde langsam nervös. Nachdem Poisson zu meiner völligen Überraschung überholt wurde setzte ich nun auf Bode Miller. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als der Ami vom Norweger Svindall überholt wird. Mein Frau blättert unterdesen in einem Modeprospekt, selber bin ich mittlerweile schon völlig fixiert auf den Abfahrtslauf.

Ich verstehe die Welt nicht mehr! Wie kann man sich beim wichtigsten Skirennen des Jahres Frühlingsmode anschauen? Mein Frau bleibt, für mich unverständlich, total entspannt. "Dä isch langsam, dä Walchhofer!" meint sie. Ich starre auf den Fernseher, natürlich HD Full. Mit dieser technischen Errungenschaft kann man sogar das nervörse Stirnrunzeln der Schweizer Kontrahenten am Start analysieren."Dä Walchhofer fahrt fantastisch, dä holt Gold! Verdammt i has gwüsst, scho bim Start kei einzige Sorgefalte". Ich bin nervlich bereits ziemlich angeschlagen, und das bei Nummer 17. Die schlechte Fahrt von Ambrosi Hoffmann kurz vor dem "Walchi" hat meiner Psyche nicht gutgetan. Der Topfavorit der Ösis fällt allerdings weit zurück. Ich bin erleichert, der prestigeprächtigste Sportanlass 2010 wird wohl ohne Sieger aus unserem östlichen Nachbarland auskommen müssen (wohltuende Schadenfreude übermannt mich).

Jetzt kommt der nächste Schweizer Abfahrtsstar! "Da git nünd mitem Defago" sage ich zu meiner Frau. Sie hat gerade ein tolles Kleid für unsere Tochter gesehen, und will mir den Katalog zeigen. WIE SOLL DAS BITTESCHÖN FUNKTIONIEREN??? Ich bin kaum mehr fähig die Fernbedienung ruhig in der Hand zu halten, geschweige denn mich auf etwas anderes als die (hoffentlich gut) gewachsten Skier von Defago zu konzentrieren.
Sprachlos verfolge ich die Fahrt von Defago, ich lege mich in jede Rechts und Linkskurve. Das Sofa ist mein Whistler Mountain. Sogar meine Frau hat nun die Modewerbung zur Seite gelegt. "Da gid Rang 1" gibt sie optimistisch zum Besten. Ich zweifle erheblich daran. Beim allerwichtigsten Rennen in der Geschichte des Skisports kann sicher noch viel passieren, mutmasse ich. Defago verpasst ein Tor, er verliert einen Ski, ein Migräneanfall überkommt ihn 200 Meter vor dem Zielbanner, oder vielleicht rennt ein Bär aus den kanadischen Wäldern auf einmal auf die Piste.
All dies passiert überraschenderweise nicht. Der 33-jährige Wallister führt die Rangsliste, zu meiner totalen Verblüffung an.

Jetzt kommt der Kanadier Osborne Paradis. "Das git genau so än Überraschigs Olympiasieger" bin ich überzeugt. Doch auch hier liege ich falsch. Die Kanadier gehen ebenfalls leer aus, und das beim bedeutensten olympischen Ereignis der letzten 1000 Jahre. Didier Cuche, der Schweizer Superstar, steht am Start. Eine perfekte Fahrt brettert er herunter. Der letzte Sprung. Bernhard Russi verkündet dem gebannten Schweizer TV Publikum bereits die frohe Botschaft "das ist der Doppelsieg, das ist der Doppelsieg". Mein Handy blinkt. Auf virtuellen sozialen Netzwerken haben ebenfalls schon einige ganz Eilige die Worte "Gold und Silber" hineingetippt. Ich habe mich schon lange vom Sofa erhoben, die Arme hochhaltend zum Siegesjubel. Es folgt ein kollektives Raunen durch die Schweizer Stuben. Rang Sechs, "nur" Rang Sechs…

Die Ösis atmen durch. Ein Schweizer Doppelsieg bei der Olympia Abfahrt wäre für sie ähnlich schmerzvoll gewesen wie damals der Rücktritt von Karl Moik beim "Musikantenstadl". Gold! Gold! alle sind überzeugt, dass Didier Defago neuer Olympiasieger ist. Ich zweifle immer noch stark daran, bei jeder einigermassen guten Zwischenzeit eines Fahrers rufe ich meiner Frau zu: "Do chömed no ganz schnelli abe". Für sie ist das Rennen allerdings gelaufen, der Modekatalog hat wieder von ihr Besitz genommen. Florian Innerhofer aus Italien führt bei der Zwischenzeit. "Gsesch i has immer gseid, do chund no eine!". Sie schaut nicht mal mehr vom Katalog auf, völlig zurecht wie sich herausstellt. Ich hingegen bin mir erst sicher, dass die Sache gelaufen ist, als der letzte chilenische Skifahrer unten angekommen ist.
Die Schweiz hat soeben für die unereichte Sternstunde in der Geschichte des Sports gesorgt, ohne Zweifel.

Meine Frau geht schlafen, aber sie wird nicht lange zur Ruhe kommen…wie sie bald leidlich erfahren wird. Halb kriechend, halb gehend, mit den Nerven völlig am Ende bewege ich mich kurz nach 22.00 Uhr Richtung Schlafzimmer. "Da muesch gseh, mer schriebed Sportgschicht!" sage ich zu meiner Gemahlin. Sie schaut mich verduzt an und meint: "Da chani au morn no luege!". Die Gattin erhebt sich dann einigermassen widerwillig doch noch. Der Fernseher läuft eh so laut, dass sie ungewollt jedes Wort mitkriegt.
Dario Cologna, der langlaufende Bündner holt sich ebenfalls Gold. Der Kommentator vergleicht ihn mit Roger Federer! Völlig zurecht, er ist sozusagen Federer, Zurbriggen und Wilhelm Tell in einer Person, mindestens…EIN WAHNSINN

12. September 1848 Gründung des Schweizer Bundesstaats, 27. November 1990 der Kanton Appenzell Innerrhoden beschliesst das Frauen Stimmrecht, 6. Juli 2003 Roger Federer gewinnt das erste Mal Wimbledon und am 15. Februar 2010 holen zwei Schweizer Gold an den olympischen Spielen.

Was für ein Tag, aber eigentlich interessiert mich Olympia ja gar nicht….oder wie ist das? :-)

6 Kommentare:

Dänu hat gesagt…

Ein Genuss!!! Konnte Dir teilweise sehr gut nachfühlen, es ging mir ähnlich ;-).

Spannend ist es übrigens auch, in einem Fancar von A nach B (in diesem Falle vom Auswärtsspiel an die Fasnacht) zu sitzen und während dieser Fahrt über Telefon das Skispringen-Gold mitzuerleben.

War das Kleid für die erste oder die zweite Tochter?

gossau-fen hat gesagt…

für die erste tochter, dänu :-))

hehe, das stelle ich mir auch amüsant vor. ein ganzer Fancar am schreien "flieg simi flieg" und danach völlig euphorisiert aussteigen, trotz soeben erlittener Niederlage des Lieblingsvereins :-)

Sektion Appenzell hat gesagt…

grande flo. wow, ich schwelge gerade wieder 2 tage zurück.

mir gings sehr ähnlich.

j. wollte nach herisau pokern, ich hatte mich angemeldet und dann gegen 19.00 doch entschieden zuhause zu bleiben. ab nummer 15 war ich stehend in der stube, nach defagos fahrt einen sprint durch die wohnung gemacht und schweizer schal umgehängt. modefan par excellence........ und dann darios sieg mit einem glas wein genossen

gossau-fen hat gesagt…

hehe sehr schön Sektion Appenzell :-), mit schal grossartig!

du bist halt auch so eine richtige "80er Jahre Skifahrer Kutte" wie ich :-)
Damals augewachsen, als die Lehrer im Skilager noch Verletzungen vortäuschten. Nur um sich bei einem Heissgetränk, in der warmen beiz, den 2.Lauf im Riesenslalom anzschauen zu können.

Sektion Appenzell hat gesagt…

jep, das waren aber auch noch legendäre skilager, die gibts wohl bei der heutigen jugend nicht mehr.

fällt mir gerade ein.
hatten skilager in engelberg, sass ich tatsächlich mit erika hess auf dem bügel, gemerkt hatte ich es erst , als sie losfuhr :-(
dabei, war ich doch so fan von ihr, ob es mit dem namen einen zusammenhang hat .....

gossau-fen hat gesagt…

ich nehme an, dir war nur der vorname symphatisch (hoffentlich :-))

ich war vor vielen jahren einmal an einem Fussballspiel in Staad. Irgendso ein Promi Spiel mit Zurbriggen, Mahrer, Heinzer und wie sie alle hiesen. Das lockte damals noch die Massen an :-)
Jahre später hat uns dann Pirmin Zurbriggen noch per Videobotschaft zur Hochezeit gratuliert. Sachen gibts :-)