Dienstag, Juni 22, 2010

Espresso mit Cola

Gegen Mittag fühle ich mich bereits, als hätte ich einen halben Liter Espresso mit Cola getrunken. Das WM Fieber hat mich gepackt, völlig unvorbereitet, und obwohl ich mich vehement dagegen zur Wehr setzte. Doch die fantastische Leistung der Schweizer Multi-Kulti Truppe gegen Spanien sorgt dafür, dass ich nun einen Puls habe, wie bei einer Tour de France Bergankunft auf dem Mont Ventoux.

Sogar mein Fussball Aberglaube ist zurück. Ich dachte dies sei etwas, dass nie mehr wiederkommen wird, wie Raider Schokoriegel, die Musikgruppe ABBA oder englische Torhüter von Weltklasseformat.
Falsch gedacht, schon am Morgen fahre ich mit dem Velo zur Arbeit, weil ich das am Tag des Triumphes gegen den Iberer auch so gemacht habe. Da hindert mich auch der regional übliche strömende Regen nicht daran. Nachdem ich wie ein begossener Pudel an meiner Arbeitsstelle ankomme, entwickelte sich der Tag wie erwartet. Ob mit Kunden, oder Mitarbeitern es gibt nur ein Thema "Frei oder nicht Frei, das ist hier die Frage", und damit ist der Basler Spieler gemeint, denn ansonsten machen sowieso die meisten "Frei". Um Punkt 15.30 (wie beim Spanien Spiel) verlasse ich das Büro. Ich nehme es durchaus als gutes Zeichen wahr, dass mir bereits um diese Zeit die ersten betrunkenen Fans in rot-weissen Trikots entgegenkomen (auch wie beim Spanien Spiel). Das zweite Vorrundenspiel schaue ich wiederum ausschliesslich in weiblicher Gesellschaft, meinen teilweise schlafenden Sprössling mal ausgenommen. Fussball schauen mit Frauen hat einen grossen Vorteil, man muss sich tatsächlich nicht schämen alkoholfreies Bier zu servieren. Dies war nämlich eine weitere Sache, die sich beim Spanien Spiel erfolgreich bewährte. Bier ohne Umdrehungen hat einen massiven Einfluss auf die Gemütslage des Konsumenten. Mit Alkohol im Getränk verschiebt sich die Wahrnehmung. Schüsse aus 50 Metern durch technisch limitierte Aussenverteidiger werden zu brandgefährlichen Aktionen der eigenen Mannschaft. Im Gegenzug schaut man seelenruhig zu, wenn gerade drei Stürmer des Gegners auf den heimischen Nationaltorwart zu laufen.

Bei so imens wichtigen Spielen las ich also lieber die Finger vom Flaschengeist. Völlig nüchtern so einen Match zu betrachten, führt allerdings auch dazu, dass man von der ersten Minute an zittert, wie ein Investment Banker auf dem Beichtstuhl. Hingegen hat die Gesellschaft der weiblichen Geschöpfe wiederum den Vorteil, dass das Spiel ohne "besserwisserische Kommentare von Pseudo Experten" vonstatten geht. Da regt es mich auch nicht auf, wenn meine Frau der kleinen Tochter nach zwei Spielminuten erklärt, dass die Roten die Schweizer wären, obwohl die Helvetier in Weiss antreten. Schliesslich kleidet sie in diesem Moment gerade die Puppe der Kleinen ein, und ich kann somit in gespielter "Ruhe" die Begegnung schauen.
Nicht das hier ein falscher Eindruck entsteht, meine Gattin versteht durchaus etwas von Fussball. Sie spricht zwar während der Partie mehrmals von Kuffour, wenn Nkufo im Ballbesitz ist, aber das kann man getrost der Nervosität zuschreiben.

Wir spielen ganz schlecht, und der Schiri macht auch nicht gerade den Eindruck, als ob er seine Ferien am liebsten im Berner Oberland verbringt. Die Chilenen scheinen ein verdammtes Wundermittel zu haben, sie sind schneller, ballsicherer und cleverer als die Eidgenossen. "Goal" schreie ich ein paar Mal, obwohl der Ball nicht mal in Sichtweite von Diego Benaglio ist. Mit normalem Bier hätte ich nun wohl einen hoffnungsvollen Konter der Schweizer erwartet, saublöde Nüchternheit beim Fussball gucken. Gegenüber meinem Pessimismus wirkt der Finanzminister von Griechenland, so optimistisch wie die Portugiesen nach dem 7:0 über Nordkorea.

In der Pause bin ich sicher, wir werden verlieren. Sogar mit meinem Aberglauben komme ich nicht mehr weiter. Ich setze mich zwar noch näher an den Flachbildschirm (hat gegen Spanien Glück gebracht), aber auch das will nicht richtig funktionieren. Dann fällt das unvermeintliche 1:0, eine plötzliche Leere übermannt mich. Die letzten Minuten verfolge ich wie in Trance, aber noch immer ungläubig, dass mich dieses Geschehen im südlichen Afrika so mitnimmt. Die Damen sind auch geschockt, sie bleiben aber noch hoffnungsvoll. Eren Derdiyok schiesst in der letzten Minute am Tor vorbei, meinte Tochter spielt mit den Puppen, die anderen weiblichen Stimmen schreien "Neeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiii", ich schaue panisch und sprachlos auf den Fernseher. Ich fühle mich wie ein Engländer beim Gang zum Elfmeterpunkt…..hoffnungslos.

Wenige Minuten nach Abpfiff werden online in sozialen Netzwerken bereits die abstrusesten Verschwörungstheorien abgehandelt. Ich mag nichts mehr Sehen und Hören. Der Spaziergang mit der Familie durchs Quartier tut gut, es ist unverhältnismässig still. Eine Frau mit Tränen in den Augen läuft aus einem Hauseingang, ist es wegen Eren's Chance, oder doch nur wegen etwas Unwichtigem?

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