Montag, Juli 19, 2010

Das Experiment

Schaffe ich es ab den WM-Viertelfinals kein Live Spiel am TV zu verfolgen? Was heutzutage sogar für Fussball Unintressierte eher unwahrscheinlich scheint, ist für einen Menschen, der einstmal das Kicker WM Sonderheft gleich Doppelt kaufte (notabene eins zum Lesen, eins zum Sammeln) ein doch eher aussichtsloses Unterfangen.
Den ersten beiden Partien in der Runde der letzten Acht entgehe ich locker. Bei Brasilien:Holland belade ich unser Auto für die nahende Ferienreise. Beim zweiten Spiel liege ich bereits in den Federn und erlebe keine ghanaischen Tränen.
Schwierig wird’s erst am nächsten Tag beim Klassiker Deutschland:Argentinien. Nach absolviertem Berg-Marathon sitze ich entspannt in einer Tiroler Gartenwirtschaft . Blöd nur, dass sich in meinem Blickfeld ein Anhänger der deutschen Nationalelf befindet. Er sitzt im Inneren des Restaurant vor dem, mir nicht ersichtlichen, Bildschirm. Beim ersten Tor hüpft er überschwenglich in die Luft, beim zweiten Tor rennt sein kleiner Sohn euphorisch nach Draussen und schreit "Tor für Deutschland" und klatscht mit so einer doofen Plastikhand. Die Österreicher am Nebentisch scheinen darob wenig begeistert. Im weiteren Verlauf des Spiels hüpft der Deutsche vor meiner Nase noch zwei Mal in die Luft. Voila 4:0. Danach versinkt Sankt Anton nicht gerade im Siegestaumel, schnell ist es ruhig und die sanfte Aura eines sommerlichen Renter-Urlaub Paradies legt sich wieder über das Dorf am Arlberg.

Am folgenden Tag reisen wir nach Italien. Hier ist die WM so weit weg, wie das Outfit eines sächsischen Touristen vom Mailänder Mode-Laufsteg. Die Südländer sind also in diesen Wochen meine heimlichen Verbündeten. Mit der totalen Ignoranz des Grossturniers gehen sie ziemlich weit. Die Nutella Gläser sind immer noch frech mit "Italia Campione del Mondo 2006" bedruckt, und die Gazetta dello Sport kümmert sich vornehmlich um die sommerlichen
Transfergerüchte. Gebe es auf dem Campingplatz nicht diverse Holländer und Deutsche, ich schwöre man bekäme nichts vom Sepp Blatter "Grümpeli" mit. Unser Nachbar aus Mainz scheint gottseidank auch nicht der grosse Fussballfan zu sein, kaum angekommen nimmt er nämlich die Vuvuzela seines 12-jährigen Sohns in persönliche Schutzhaft. Ansonsten wäre das Teil wohl in einer Nacht und Nebelaktion von mir persönlich in italienischen Gewässern entsorgt worden.

Die erste wirklich harte Bewehrungsprobe folgt beim Halbfinale Spanien:Deutschland. Am Vorabend reichte ein kollektiver oranger Jubelschrei, von Heineken geölten Stimmbändern um das Resultat zu erraten. Nun das Spiel unserer nördlichen Nachbarn. Sassen die Holländer noch grüppchenweise vor ihren Wohnwagen um dem Halbfinale fernsehtechnisch beizuwohnen, setzen die Deutschen auf Gruppendynamik.
"Du Jochen, findet hier irgendwo Pöblic Wiuuuing statt?" Public Viewing, eine Art Besamer einer idiotischen Fankultur à la Sommermärchen. Jochen wusste jedenfalls wo es so was gibt. Es machten sich also zig Teutonen mit sonnenverbrannten Gesichtern und "Jogis Elf" T-Shirts auf, in die grösste Pizzeria am Platz. Meine Frau und ich sassen währendesen mit einem Kollegen auf der Veranda und diskutierten über Gemeindepolitik. Dieser Mann war der ideale Gesprächspartner, da er sich für Fussball in etwa so interessiert, wie für die Fortpflanzug der Weinbergschnecken im Burgund.
Irgendwann brandete grosser Jubel über den Campingplatz und einige Vuvuzelas fanden doch noch den Weg zum Mund ihrer minderjährigen Besitzer. "Deutschland also im Finale" sage ich zum meinen Gesprächspartnern und diskutiere umgehend weiter über die Tempo 30 Zonen in Gossauer Wohnquartieren.
Als eine halbe Stunde später unsere Mainzer Nachbarschaft mit hängenden Köpfen Richtung Wohnwagen schlendert, denke ich noch für mich "War wohl kein besonders tolles Spiel". Meine Frau ist da schon weiter und fragt unverblümt "Haben die Deutschen gewonnen?" In diesem Moment hätte wohl ein hartgesottener Fussballfan sämtliches Camping Inventar in unsere Richtung geschleudert. Unser Feriennachbar aus der Karnevalsstadt bleibt aber locker und sagt "Nein, verdient verloren". Nebenan schreit ein holländischer Bub in den italienischen Nachthimmel "Schade Deutschland alles ist vorbei".

Da jetzt nicht gerade mein persönliches Traumfinale ansteht, sehe ich mein Experiment schon beinahe geglückt. Gar Lachen muss ich, als mich jemand fragt, ob ich mir das Spiel um Platz 3 auch auf dem Grossbildschirm anschauen möchte? Ein Spiel, das früher vornehmlich dazu benutzt wurde, allen "WM Touristen" im Kader noch eine Rechtfertigung für ihre turnierbedingte heimische Abwesenheit zu geben. Eine Partie die weiland von den Stammspielern verkatert von der Ersatzbank verfolgt wurde. Mittlerweile, da Deutschland schon fast eine Dauerkarte auf diesen 3.Platz gelöst hat, spricht man aber schon bedeutungsvoll vom Gewinn der Bronze Medaille.

Dann der Tag des Finals, die Niederländer scheinen wenig euphorisch. Kein Heineken mehr im Camping Laden? Wohnwagen aufgebrochen? Deiche gestiegen? jedenfalls ist die Stimmung eher nervös bangend, als freudig erwartend. Bewusst schlendere ich vor dem Spiel über den Campingplatz, wieder haben sich die Oranje Anhänger in Grüppchen vor den TV Geräten versammelt. Meine Schwiegereltern haben gekocht und wir sitzen gemütlich zusammen. Niemand spricht über Fussball, bis mein Schwiegervater bermerkt, dass der WM Final ja schon 30 Minuten andauert. Hektisch montiert er das TV Gerät, und richtet die Satelliten Schüssel aus. Ich bange, vielleicht funktioniert das Ding ja nicht. Lange Zeit schaut es tatsächlich so aus, als ob der Fernseher kein Signal empfängt.

Ich merke aber nun, das mein Experiment zum Scheitern verurteilt ist! Scheiss drauf, ich muss dieses Spiel jetzt sehen, es hilft nichts mehr. Ich schraube nun selber an Kabeln rum und unterstütze den Vater meiner Frau auf der Suche nach der richtigen Ausrichtung der Satelliten Schüssel. Puhhh endlich geschafft, kurz vor der Pause flimmert der Finale auch über unseren Bildschirm.

Ich sitze gebannt vor dem Fernseher, und fühle mich befreit, wie die armen Schluckspechte morgens am Bahnhof nach der ersten Dose Bier. Der Entzug war allerdings leichter, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich konnte fast zwei Wochen auf Fussball verzichten. Dass in WM Zeiten, in denen Quartier-Coiffeusen mit Kommentaren zu Spielzügen aufwarten. In Wochen, wo selbst dem gleichen Geschlecht zugetane Barkeeper, mit ihren Gästen über Torszenen diskutieren.
Sollte mir meine persönliche Fussballabstinenz Angst machen? Ist meine Liebe zum Spiel erloschen? All die hunderte von Spielen nur noch Makulatur und Schnee von gestern?

Nach den Ferien zuhause angekommen, stürze ich zum PC, endlich der Spielplan der 1.Liga Vorrunde 2010/2011 ist aufgeschaltet.

2 Kommentare:

Sektion Appenzell hat gesagt…

mein gott flo, du bist einfach ne wucht.sauber geschrieben.

bei mir stellt sich die frage nicht, ob ich das 2 wochen auch geschafft haette.

gossau-fen hat gesagt…

lieber erich, du hast die zeit nicht mal überstanden, ohne spontan einen flug nach südafrika zu buchen :-)